In einer Welt, die von Unsicherheit, Komplexität und ständigem Wandel geprägt ist, diskutieren Verena Scherl und Renata Rybecka im Interview die zentrale Rolle von lebenslangem Lernen und New Learning. Sie beleuchten, wie Unternehmen und Individuen sich anpassen müssen, um zukunftsfähig zu bleiben, und was genau New Learning bedeutet. Die Expertinnen zeigen unterschiedliche Konzepte von New Learning und wie diese Unternehmen und Individuen helfen, sich an die dynamischen Anforderungen anzupassen und zukunftsfähig zu bleiben. Sie teilen ihre Einsichten in die Herausforderungen und Chancen, die sich durch diese Lernansätze ergeben, und betonen die Bedeutung von Resilienz und Anpassungsfähigkeit in der modernen Arbeitswelt.
Warum ist kontinuierliches und lebenslanges Lernen wichtiger denn je?
Verena: Damit aus den Herausforderungen der heutigen Zeit Chancen werden. Welche Herausforderungen meinen wir damit?
Was hat das für Auswirkungen auf die Strategie von Unternehmen?
Verena: Um langfristig erfolgreich zu sein und den genannten Herausforderungen begegnen zu können, brauchen Unternehmen eine langfristige Weiterbildungsstrategie, die sich aus den Zielen des Unternehmens ableitet.
Mit dieser Forderung sind wir nicht allein, wir stützen uns dabei auf eine Studie des McKinsey Global Institutes (2023), in der 1.800 börsennotierte Unternehmen befragt wurden. Von diesen gaben 84% an, dass Weiterbildung ein wichtiges Thema auf der Vorstandagenda ist. Das zeigt, dass Weiterbildung wirklich essenziell für Unternehmensstrategien ist. Aus Employer Branding Sicht steigert das Angebot von Weiterbildungen auch die Attraktivität eines Unternehmens als Arbeitgeber – wie eine Studie der Tiba Managementberatung GmbH und des Bundesverband Deutscher Studentischer Unternehmensberatungen e.V. (2021) belegt, besonders bei der Gen Z.
Renata: Hier hat Verena schon einige wichtige Aspekte genannt, warum es für Unternehmen entscheidend ist, auf die kontinuierliche Weiterbildung ihrer Mitarbeitenden zu setzen. So erreichen Unternehmen langfristig Innovationskraft und Wettbewerbsvorteile, außerdem steigern sie die Zufriedenheit der Mitarbeitenden, sie sind motivierter und leistungsfähiger. Dadurch steigt wiederum die Leistungsfähigkeit von Unternehmen – eine Win-Win-Situation für beide Seiten: Mitarbeitende und Unternehmen.
Wir hören immer mehr von New Learning – Was genau können wir darunter verstehen?
Renata: Die bereits genannten Entwicklungen inklusive der Corona-Pandemie haben das Thema New Work stark beschleunigt. Es hat sich wie ein Katalysator auf die Weiterbildung ausgewirkt und das Thema New Learning hervorgebracht.
Bei New Learning rückt zum einen das Individuum immer mehr in den Vordergrund. Das Lernen wird immer individueller und bedarfsgerechter, aber auch kollaborativ und praxisnah. Vieles wird digitalisierter, KI spielt eine immer wichtigere Rolle und Lernen soll auch immer mehr in den Alltag integriert werden. Was auch wichtig ist, das Ganze auf die Zukunft auszurichten. Hier sind wir beim „Reskilling“ und „Upskilling“ – zwei zentrale Begriffe im New Learning.
„Upskilling“ bedeutet, bereits vorhandene Fähigkeiten und Kenntnisse weiterzuentwickeln und zu vertiefen, um in einem Berufsfeld besser zu werden oder aufzusteigen. „Reskilling“ bezieht sich auf das Erlernen neuer Fähigkeiten und Kompetenzen, um in ein komplett neues Berufsfeld einzusteigen oder neue Rollen anzunehmen.
Verena: Ich möchte ergänzend darauf hinweisen, dass es keinen einheitlichen Ansatz gibt, um New Learning durchzuführen, es gibt keine einheitliche New Learning-Strategie, die für alle Unternehmen gleich ist. Es kommt immer auf die Ausgangssituation, das Unternehmen und dessen Mitarbeitende an.
Zu New Learning gehört auch dazu, dass man scheitern darf. Lassen Sie sich nicht unterkriegen, wenn Sie ein New Learning-Konzept in Ihrem Unternehmen einführen und es nicht auf Anhieb klappt – das braucht Zeit.
Welchen Einfluss hat New Learning auf die Art des Lernens?
Verena: Für uns gibt es hier vier zentrale Punkte: die praxisnahe bedarfsgerechte Gestaltung, Individualität, Kollaboration und KI.
In Zukunft sollten wir uns wegorientieren von Mehrtagestrainings, die wenig oder überhaupt keinen Bezug zum Arbeitsalltag der Mitarbeitenden haben. Wir kennen es alle: Der Mitarbeitende bucht im Februar ein Training, geht im Oktober hin, kommt zurück und ist super motiviert, das Erlernte im Alltag anzuwenden. Muss dann aber feststellen, dass er keine Möglichkeit hat, das in die Tat umzusetzen. Durch die ausbleibende Anwendung des Erlernten, wird viel davon wieder vergessen. So wird das erlangte Wissen nicht nachhaltig verankert. Unsere Empfehlung ist daher, Mehrtagestrainings in sogenannte Lernreisen einzubetten, die sich idealerweise über mehrere Wochen ziehen.
Diese Lernreisen sollten idealerweise auch im Blended Learning-Format durchgeführt werden: Selbstlernen wechselt sich ab mit Lernen in einer Gruppe oder Lernen mit dem Trainer. So können die Lernenden sich das theoretische Wissen eigenständig aneignen, es dann direkt im Arbeitsalltag ausprobieren und sich anschließend mit der Lerngruppe oder den Trainern austauschen und Feedback einholen. Das ist ein wichtiger Aspekt bei New Learning: das Erlernte direkt anwenden.
Genauso wichtig ist, Wissen genau dann zur Verfügung zu stellen, wenn es relevant ist und auch benötigt wird. Für bedarfsgerechtes Lernen eignet sich beispielsweise Micro Learning besonders: Kurze und prägnante Lerneinheiten wie Videos oder Web-Based Trainings, die sich super in den Arbeitsalltag integrieren lassen.
New Learning stellt außerdem den Lernenden in den Mittelpunkt des Lernprozesses. Wir überlegen uns, was der Mitarbeitende braucht, um zu den Unternehmenszielen beitragen zu können, welche Lernformate ihn motivieren und versuchen seine persönlichen Vorlieben zu berücksichtigen. Das bedarf viel Kommunikation mit dem Lernenden.
Lernen im sozialen Austausch rückt bei New Learning auch immer weiter in den Vordergrund. Hier teilen die Lernenden ihre Erfahrungen in einer Gruppe, eignen sich Wissen aktiv im Austausch an. Umsetzungsformen sind beispielsweise eine „Community of Practice“ zum gemeinschaftlichen Wissensaufbau, wie wir sie bei der Tiba zum Thema Change Management haben.
Im New Learning wird der Fokus auch auf das informelle Lernen gesetzt, das bedeutet Lernen, das häufig beiläufig im Alltag abläuft. Auch Gespräche zwischen Mitarbeitenden, Social Media Posts und Podcasts können Formen der informellen Weiterbildung sein.
Renata: Zum letzten Punkt, dem Einfluss von KI. Dadurch, dass KI immer mehr unsere Aufgaben übernehmen kann, kann es sein, dass wir heute etwas lernen, dass morgen schon von der KI erledigt werden kann. Damit sind die erlernten Fähigkeiten nicht mehr relevant. Weiterbildungskonzepte müssen demnach ständig angepasst werden, denn die geforderten Kompetenzen ändern sich schnell.
Zu diesen geforderten Kompetenzen gehört im Zuge von New Learning auch das Beherrschen von KI-Tools. Es ist sogar eine neue Kompetenz, zu erlernen, wie sinnvoll mit der KI zusammengearbeitet werden kann: Welche KI-Tools unterstützen mich und welche rauben mir eher Zeit?
Wie unterstützt künstliche Intelligenz konkret im Bereich Learning and Development?
Renata: KI kann im Learning and Development viele Aufgaben übernehmen. Sie kann zum Beispiel schnell und präzise Daten auswerten und mit Algorithmen arbeiten, was für den Menschen zu komplex wäre. Basierend auf diesen Datenauswertungen kann KI erste Vorschläge für individualisierte Lernpfade erstellen. Bereiche wie Teambuilding, emotionale Intelligenz oder kreative Kompetenzen können derzeit noch nicht – oder zumindest noch nicht zur Gänze – von KI ersetzt werden. Hier können wir uns zwar Unterstützung holen, aber die finale Umsetzung und Realisierung liegt beim Menschen.
Wie wird eurer Meinung nach Weiterbildung fit für die Zukunft?
Renata: Zunächst einmal ist es wichtig, sich das Ganze strategisch anzuschauen, mit Blick auf die Unternehmensziele und Personalstrategie. Wichtig ist zu identifizieren, wo die eigenen Mitarbeitenden stehen und wo man als Unternehmen hinwill. Da sind wir wieder beim Thema „Reskilling“ und „Upskilling“. Darüber hinaus ist wichtig, dass Lernen immer mit Transfer und Anwendungsmöglichkeiten einhergeht, wie Verena vorhin schon betont hat.
Generell ist es essenziell, dass Unternehmen offen sind für Veränderung und Transformation, um auch in der Weiterbildung neue Wege gehen zu können. Denn wenn Unternehmen entsprechende Möglichkeiten bieten, finden sich schnell Mitarbeitende, die genau das schätzen und zu Multiplikatoren im Unternehmen werden, um die Innovation voranzutreiben.
Das ist ein gutes Stichwort. Wie kann man denn die Lernbereitschaft und die Motivation der Mitarbeitenden fördern?
Verena: Da fallen mir zum Beispiel „Game-Based Learning“ oder „Gamification“ ein.
„Game-Based Learning“ bedeutet, das Erlernte im Spiel zu verfestigen oder durch Spielen zu lernen. In der digitalen Welt kann dies beispielsweise eine Mission sein, die erfüllt werden muss, um spielerisch ein neues IT-Tool kennenzulernen. Auch Planspiele haben ähnliche Effekte, diese kommen bei uns in der Tiba oft zum Einsatz.
„Gamification“ ist eine andere Methode, um die Lernenden zu motivieren. Es umfasst spielerische Elemente im Training, zum Beispiel Punkte, Abzeichen oder Ranglisten. Daneben können auch digitale Escape Rooms zum Leben erweckt werden. Einige unserer Leserinnen und Leser haben vielleicht schon einmal an einem Escape Room im Live-Format teilgenommen. So geht es auch in der digitalen Variante darum, Aufgaben zu lösen oder Fragen zu beantworten, um letztendlich den Ausgang zu finden.
Was auch motivierend sein kann und für vielerlei Lerntypen relevant ist, sind „Micro Learnings“. Diese hatte ich zu Beginn schon einmal erwähnt. Kurze, prägnante Lerneinheiten zu einem bestimmten Inhalt – zum Beispiel in Form von Videos oder Podcasts – können bei Bedarf eingesetzt und im Arbeitsalltag umgesetzt werden. Mithilfe entsprechender Gestaltung im Schnitt oder Ähnliches kann dabei auch gut die jüngere Generation angesprochen werden.
Last, but not least, fördert auch die Wissensaneignung durch sozialen Austausch die Motivation. Da gibt es spannende Formate wie die bereits erwähnte „Community of Practice“. Oder auch „Learning out Loud“, „Lunch and Learn“, „Flipped Learning” und viele mehr. Oft werden bei diesen kollaborativen Formaten Themen aus der Arbeitswelt besprochen. Man kann aber natürlich auch Themen in den Mittelpunkt stellen, für die die Mitarbeitenden privat brennen. In der Tiba haben wir hierzu ein schönes Format, das nennt sich „TOST“, das sind die „Tiba Online Space Tage“. Die Einzelslots sind dabei auf mehrere Wochen verteilt. Und jeder, der Interesse hat, kann sich einen Slot reservieren und über ein bestimmtes Thema referieren und diskutieren. Dieses „Selbst-Lehren“ kann auch total motivierend sein. Wichtig dabei ist, dass die Mitarbeitenden zu diesem selbstverantwortlichen Lehren und Lernen hingeführt werden. Das ist ein Prozess, der seine Zeit kostet. Aber es lohnt sich!
Passend zum Thema Zeit: Was schlagt ihr vor, wenn Weiterbildung aufgrund von Zeit zu kurz kommt?
Verena: Das ist eine sehr gute Frage. Wir alle kennen das Zeitproblem im Arbeitsalltag. Generell ist es enorm wichtig, dass die Geschäftsführung dem Thema Weiterbildung gegenüber positiv gestimmt ist, dass Weiterbildung einen hohen Stellenwert im Unternehmen hat – Stichwort langfristige Weiterbildungsstrategie.
Ein hilfreiches Mittel ist darüber hinaus das informelle Lernen, das ich vorhin bereits erwähnt habe. Das kann man super gut an Routinen anknüpfen. So kann man zum Beispiel auf dem Weg zur Arbeit eine kurze Podcast-Folge anhören. Oder man eignet sich die Posts von verschiedenen „Learnfluencern“ auf Social Media an, wenn man eine Kaffeepause macht.
Was wir in unserem eigenen Team in der Tiba derzeit ausprobieren, ist eine Stunde „Team-Lernen“. Wir treffen uns immer donnerstags für eine Stunde und bilden uns gemeinsam zu dem Thema KI und Learning & Development weiter. Dafür skizzieren wir in den ersten fünf Minuten kurz, mit welchem Unterthema wir uns in den nächsten 25 bis 35 Minuten beschäftigen wollen. Jeder der drei Teilnehmenden bringt eigene Punkte mit ein, anschließend geht es in die Selbstlernphase. Danach stellen wir uns gegenseitig das Wissen vor, das wir uns erworben haben. Am Ende ist das nur eine Stunde in der Woche, die aber enorm viel bringt.
Was wollt ihr den Leserinnen und Lesern noch mit auf den Weg geben?
Renata: Weiterbildung braucht Zeit, Scheitern gehört dazu, nicht für jedes Unternehmen und für jeden Mitarbeitenden ist eine bestimmte Lernform die Richtige. Daher sollte das kollaborative und selbstbestimmte Lernen in die Lernkultur des Unternehmens integriert werden. Der Schlüssel ist der Aufbau und die Stärkung einer positiven Lernkultur.
Verena: Seien Sie offen, probieren Sie Formate aus und sorgen Sie so für ein Arbeitsklima, das Raum für New Learning gibt!
Vielen Dank für diese spannenden Einblicke!
McKinsey Global Institute (2023). Performance through people: Transforming human capital into competitive advantage. https://www.mckinsey.com/mgi/our-research/performance-through-people-transforming-human-capital-into-competitive-advantage [retrieved on May 14th, 2024].
Tiba Managementberatung GmbH and Bundesverband Deutscher Studentischer Unternehmensberatungen e.V. (2021). Transformationsbedarf für Unternehmen aus Sicht der Generation Z – Eine Gemeinschaftsstudie der Tiba Managementberatung GmbH und dem Bundesverband Deutscher Studentischer Unternehmensberatungen e.V.