Wie lässt sich die richtige Balance zwischen Standardisierung und Flexibilisierung in Geschäftsprozessen finden, um die Produktentstehung dauerhaft für künftige, auch radikale Veränderungen fit zu machen? Antwort gibt dieses Praxisbeispiel aus der Automotive-Branche.
Ein Tochterunternehmen eines Global Players im Automotive-Sektor deckt dessen Aktivitäten für Entwicklung, Produktion, Vertrieb und Service ab. Die an zahlreichen Produktions- und Servicestandorten sind mit massiven Änderungen konfrontiert: Die Änderungen betreffen die Branche selbst, u.a. durch den Einzug von alternativen Antriebstechniken und damit einhergehend neuen unternehmerischen Partnerschaften, sowie durch eine stark veränderte strategische Ausrichtung, und auch hinsichtlich veränderter regulativer Anforderungen. Hier spielt auch die VUCA Welt eine Rolle. Denn Volatilität, Unbeständigkeit, Unsicherheit, Komplexität und Mehrdeutigkeit bestimmen heute die Rahmenbedingungen der Unternehmensführung.
Um sich diesen Änderungen adäquat stellen zu können, soll der Produktentstehungsprozess (PEP) im Rahmen eines Business Process Re-Engineering komplett neugestaltet werden, um neue, flexiblere Methoden zu nutzen, die zu den heutigen und zukünftigen Marktanforderungen passen. Grenzen für die Neugestaltung sind nicht vorgegeben.
Anforderungen an den neuen PEP:
Schon aus diesen Anforderungen geht die Abkehr von tayloristischem Vorgehen hervor. Bemerkenswerterweise will das Unternehmen im hauseigenen PEP, dem eventuell wichtigsten Kernprozess, keine durchgehend standardisierte Vorgehensweise mehr vorgeben. Stattdessen soll er – ohne Kompromisse in der Qualität, Steuerungsfähigkeit oder Profitabilität – wesentlich flexibler, anpassungsfähiger und innovationsfördernder werden.
Als Ansätze für die Gestaltung des neuen PEP werden vor allem folgende Themenfelder identifiziert:
Ein global gültiges Rahmenwerk für den Produktentstehungsprozess mit entsprechenden Governance-Strukturen soll entstehen, um modularer, flexibler und anpassungsfähiger zu werden.
Zunächst wird der bisherige PEP und sein Umfeld systemisch hinsichtlich der Strategievorgaben, der beteiligten Menschen, der Methoden und Prozesse, der eingesetzten Technologie, sowie der Organisation analysiert. Design Thinking Workshops kommen zum Einsatz, um iterativ Ideen für einen neuen, praxisgerechten PEP weiterzuentwickeln. Es wird auch in Betracht gezogen, die PEP-Neugestaltung im Rahmen einer selbstorganisierten Netzwerkorganisation durchzuführen, um einen breiten Erfahrungsschatz in die PEP-Gestaltung ressourcenschonend einbringen zu können.
Eine Sponsoren-Koalition im oberen Management wird aufgebaut. Sie formuliert Vision, Ziele und erwarteten Nutzen. Zudem wird sie als dauerhaft aktives Element in das Projekt eingebunden, um Teams und Mitarbeiter durch den Change zu führen. Auch im weiteren Verlauf des Projekts wird die Change Management-Methode Prosci® stark genutzt, um den Erfolg und vor allem die nachhaltige Verankerung des neuen PEP sicherzustellen.
Mit Pilotprojekten wird ein radikaler, schneller Change in einem ausgewählten Geschäftsbereich angestrebt. Die kurzfristigen Erfolge fördern die notwendige, generelle Bereitschaft zur Änderung der Unternehmenskultur und des Mindset bei den Beteiligten durch positive Impulse, Empowerment und verbesserte Kommunikation. Damit bereitet man auch den Boden für organisationale Änderungen, die mit den Mitarbeitern gemeinsam erarbeitet werden.
Die Flexibilisierung des PEP wird vor allem durch sechs agile Elemente erreicht, die im neuen PEP integriert werden:
Dies wird durch eine schrittweise Agilisierung nach Bedarf und Reifegrad ergänzt, durch Ausbau des agilen Mindset, Skillset, und Toolset. Die adaptive Nutzung von Projektmanagement-Methoden wie Design Thinking, Scrum, Kanban, Lean Development wird neben klassischen PM-Methoden im PEP erlaubt, und Empfehlungen für deren Anwendung bestimmt.
Alle Maßnahmen zur Flexibilisierung werden zudem durch einen parallelen Ausbau des Wissensmanagements und entsprechende Qualifizierungsmaßnahmen unternehmensweit unterstützt.
Das Projekt bringt eine Projektlandschaft hervor, die sich von der reinen Hardware-Betrachtung ablöst und systemisch alle Fachbereiche integriert. Durch kurze, iterative Zyklen steigen die Reaktionsfähigkeit und Flexibilität für schnell wechselnde Kundenanforderungen, bei gleichzeitiger Einhaltung der standardisierten Prozessvorgaben aus Qualität, Compliance und normativen Standards. Die adaptive Methodenwahl für das Projektmanagement im PEP und eine Betonung der kontinuierlichen Verbesserung sowie Wissenserweiterung stellen dabei die dauerhafte Anpassung an zukünftige Anforderungen aus dem Geschäftsumfeld sicher.