Unternehmenstransformation

“Neue Qualität“ als Führungsinstanz in der Unternehmenstransformation

Foto von einem Mann und einer Frau, die in ein Tablet schauen | Unternehmenstransformation

- Tiba Magazin 2021 -

Wir befinden uns in einer Epoche globaler Krisen, die uns alle, selbst in unserer hoch-privilegierten Situation, Verletzlichkeit und Existenzgefährdung spüren lassen. „Ein ‚Weiter so‘ kann es nicht geben!“ – so lautet einer der häufigsten unaufhörlich wiederholten Aussagen. Von Disruption ist die Rede, von der unbedingten Notwendigkeit des fundamentalen Wandels, der Transformation. Aber wohin und wie? Wie können wir feststellen, ob wir richtig unterwegs sind, und uns immer wieder zielorientiert ausrichten?

Ralf Kohlen

Rudolf A. Müller

Das vorherrschende Qualitätsverständnis und die davon abgeleitete Managementpraxis haben wesentlich zur Entwicklung der heutigen Menschheitsprobleme beigetragen und sind für die Gestaltung der Zukunft nicht tauglich.

„Qualität ist die Erfüllung von Anforderungen.“ (Philip B. Crosby)
„Qualität ist der Grad, in dem ein Satz inhärenter Merkmale eines Objekts Anforderungen erfüllt.“ (ISO 9000:2015)

Der Qualitätsbegriff, der sich in diesen „klassischen“ Definitionen ausdrückt, entspricht dem seit der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts dominierenden Diktat der „Objektivität“, der Allgemeingültigkeit, der Standardisierung, der Messbarkeit, der Kontrollierbarkeit - um welche „Objekte“, welche „Merkmale“, welche „Anforderungen“ es auch immer gehen mag. Traditionell mit Qualität verbundene Begriffe wie Güte, Wert, Schönheit, Sinn oder ethische Verträglichkeit durften keine Rolle mehr spielen, da sie dem „Subjektiven“ zuzuordnen sind. Komplexe Sachverhalte wurden auf einfache Kausalitäten reduziert, um den Schein von Berechenbarkeit und Kontrolle zu wahren. Und dass vordefinierte Anforderungen und Soll-Ergebnisse innovativen, individualisierten Prozessen im Weg stehen, wird ausgeblendet.

Viel systematischer Aufwand fließt in die Sicherstellung der Qualität. Dennoch produzierten und produzieren wir massenhaft problemhaltige Güter und Konstellationen. Der herrschende Qualitätsbegriff und die davon abgeleitete Managementpraxis haben als Steuerungsinstanzen letztlich versagt. Für die zukunftsfähige Gestaltung unserer Systeme und Organisationen sind sie definitiv untauglich. Wir brauchen einen Paradigmenwechsel in unserem Qualitätsverständnis und in unserer Qualitätspraxis.

Die Verwirklichung von Sinn sowie die Schaffung und faire Verteilung größtmöglichen Nutzens sind Kernkriterien eines zukunftsfähigen Qualitätsverständnisses

Welchen Kriterien hat ein zukunftsfähiger Qualitätsbegriff zu genügen? Er soll

  • sich als ganzheitlicher, stets präsenter Richtungsweiser eignen
  • inhaltliche vor formale und quantitative Anforderungen stellen
  • mit den Bedingungen der VUCA-Welt umgehen können
  • Kreativität, Agilität und Wertschöpfung unterstützen
  • wechselseitig förderlichen Beziehungen zwischen Menschen und einem schonenden Umgang mit dem Planeten zugutekommen.

Die neue „Qualitätsdefinition“, den wir in unserem Buch Quality Reinvented! einführen, erfüllt diese Kriterien. Sie formuliert zwei fundamentale Bedingungen für das Entstehen von Qualität:

1. Ein Qualitätsprodukt, ein Qualitätsprozess, ein Qualitätsunternehmen ist stets sinnvoll!

Wie oft sagen wir etwas oder tun Dinge, ohne uns vorher über unsere wahren Absichten, den Sinn und Zweck bewusst zu sein? „Wir brauchen ein klärendes Gespräch!“ „Wir wollen Marktführer werden!“ „Wir müssen mehr Umsatz machen!“ „Wir brauchen mehr Transparenz!“ Die entscheidende Frage ist: Wozu? Was wollen wir wirklich bewirken? Welchem übergeordneten Ziel soll das dienen?

Erst wenn wir unsere wahren Motive und den Sinn geklärt haben, verfügen wir über den umfassenden Kriterien Rahmen für Qualität. Und erst dann bekommt unser Handeln Kraft und volle Wirksamkeit. Dies ist der Hauptgrund dafür, dass sich immer mehr Unternehmen zu einem „Purpose“ bekennen.

„Es ist die gerechte Sache, an deren Umsetzung wir arbeiten, die unserer Arbeit und unserem Leben einen Sinn verleiht.“ (Simon Sinek 2019)

2. Ein Qualitätsprodukt, ein Qualitätsprozess, ein Qualitätsunternehmen schafft stets fair verteilten Nutzen für andere!

Die Verfolgung des selbst gewählten Sinns verleiht den Aktivitäten und Produkten die Energie und die Grundausrichtung, also die Basisessenz für Qualität. Verantwortliches Entscheiden und Handeln, gesteuert vom eigenen Sinn, also von innen nach außen, bedeuten jedoch nicht, dass sich die Unternehmen auf Selbstverwirklichungstrips begeben sollen. Der Sinn einer unternehmerischen Tätigkeit kann sich nur in ihrem Nutzen, ihrer Wertschöpfung für andere verwirklichen. Und dafür gilt es, den beteiligten Interessen bestmöglich gerecht zu werden. Und zwar allen - im Rahmen eines Gesamtoptimums. Mit einer Priorisierung, die sich aus dem zu verwirklichenden Sinn und den zugrunde gelegten Werten ergibt.

Abb. 1: Interessen und Sinns (eigene Darstellung nach Kohlen & Müller (2020))

Qualität entsteht in dem Bereich, in dem Unternehmen oder die einzelnen Menschen bei der Verfolgung ihres Sinns mit den Bedürfnissen und Interessen ihrer Stakeholder zusammentreffen. Diesen Raum der Qualität gilt es, in einem unaufhörlichen Überprüfungs- und Umsetzungssprozess zu gestalten.

Qualität entsteht, wenn Menschen oder Organisationen ihren Sinn verwirklichen und den dabei beteiligten Interessen gerecht werden.

Abb. 2: Stufen zur Qualitätsführerschaft (eigene Darstellung nach Kohlen & Müller (2020))

Nur Qualitätsführerschaft kann zu einer dauerhaft erfolgreichen Unternehmensentwicklung verhelfen.

Die Qualitätsdefinition von Quality Reinvented! bricht mit den Geboten der Objektivität, Messbarkeit und des „naturwissenschaftlichen“ Denkens. Ob „der eigene Sinn verwirklicht“ und der Produktionsprozess und/oder das Produkt „den beteiligten Interessen gerecht“ werden, entzieht sich insgesamt der objektiven Messung und liegt im Bereich des Subjektiven.

Anzuwendende „harte Kriterien“ wie Gesetze, Normen, Standards oder vereinbarte Kundenanforderungen sind aber selbstverständlich einzuhalten und objektiv nachzuweisen. Ebenso muss das Leistungsangebot stets mindestens dem marktüblichen Niveau entsprechen. Beide unteren Stufen der Qualitätspyramide lassen sich mit dem Blick nach außen bewältigen, mithilfe der Sammlung von Fakten, der Beobachtung der Märkte und der Befragung von Kunden.

Qualitätsmanagement ist als Institution und Managementdisziplin schädlich. Wir brauchen qualitätsbestimmte Führung!

Das konventionelle Qualitätsmanagement, manifestiert durch QM-Abteilungen und QM-Systeme, trennt Qualität von Management und überträgt die Verantwortung für Qualität faktisch auf (Qualitäts-) Experten. Ein Ziel von QM ist es, dass möglichst wenige „Qualitätsprobleme“ sichtbar werden (vor allem keine „Findings“ bei den 3rd Party Audits). Es entstehen normbefriedigende Schattensysteme, die massenhaft Energie zur Bedienung des Selbstzwecks verbrauchen. Das Ergebnis sind Überdokumentation, unsinnige Anweisungen, frustrierte Mitarbeiter und unzufriedene Kunden.

QM wird jedoch auch benützt, um Defizite in der Führung zu kompensieren. Vor den Einsatz von Management, die auf die Erreichung kurzfristiger, messbarer Ziele ausgelegte Anwendung von Methoden, kommt Führung, die für längerfristige Richtung, Orientierung und Sinnverwirklichung sorgen muss. Qualität beginnt mit Führung. Qualität beginnt mit Fokus auf die Menschen im und um das Unternehmen. Wenn Führung sich nicht an Qualität ausrichtet, können QM-Abteilungen und QM-Systeme nur noch mithilfe von Methoden und Tools Schadensbegrenzung bieten, was für alle und ganz besonders die „Qualitäts-Fachkräfte“ sehr unbefriedigend ist.

Abb. 3: Qualitätsbestimmte Führung (eigene Darstellung nach Kohlen & Müller (2020))

Qualität wird durch qualitätsbestimmte Führung erzeugt und gesichert.

Qualitätsbestimmte Führung gibt die Verantwortung für Qualität dorthin, wo sie hingehört: in die Hände der operativ tätigen Menschen und ihrer Führungskräfte.
Qualitätsbestimmte Führung bedeutet Selbst-, Menschen- und Unternehmensführung, bei der Qualität die Ausrichtung für sämtliche Aktivitäten vorgibt.
Dies verlangt ein uneingeschränktes Commitment der Mitarbeiter und Führungskräfte zu einer entsprechenden Qualitäts-Politik.
Wie kann die Transformation vom konventionellen Qualitätsmanagement zu qualitätsbestimmter Führung realisiert werden?

QM-Beauftragte sind die Norm-Experten und ungeliebte Polizei im Unternehmen. Wir brauchen Organisationsentwickler und Business Quality Coaches!

Die Transformation vom konventionellen QM hin zu qualitätsbestimmter Führung erfordert grundlegende Veränderungen der Haltung, des Denkens und des Handelns in der Organisation. Diese Veränderungen müssen systematisch und nachhaltig entwickelt und unterstützt werden. Bloße Veränderungen in der Struktur- oder Ablauforganisation sind eher schädlich als zielführend. Für eine erfolgreiche Organisationsentwicklung ist ein ganzheitlicher Ansatz, wie ihn das Ken Wilber Quadranten Modell veranschaulicht, anzuwenden.

Abb. 4: Ken-Wilber-Quadranten-Modell (eigene Darstellung)

Während (Qualitäts-) Management nur die äußere Dimension von Individuen und Systemen betrachtet, ist es unerlässlich, auch die innere Dimension einzubeziehen. Erst wenn wir uns den Werten und Motiven auf individueller und systemischer Ebene bewusst sind, wenn wir kulturelle Normen und Glaubenssätze hinter dem Führungsverhalten und der Ausprägung des Managementsystems reflektiert und verstanden haben, können wir qualitätsbestimmte Führung fördern und Hilfe zur Selbsthilfe bei der Entwicklung des Managementsystems und der Organisation leisten. Die geeignete Vorgehensweise dafür ist Business Quality Coaching.

Coaching wird in vielen Lebensbereichen eingesetzt. Im beruflichen Kontext nennt man es Business Coaching. Die Entwicklung sozialer Kompetenz, die im Fokus von Business Coaching Ausbildungen steht, spielt in konventionellen QM-Ausbildungen kaum eine Rolle, obwohl dies zwingend gebraucht würde. In der Ausbildung zum Business Coach wird jedoch das Thema Qualität nicht betrachtet. Ebenso werden die Themenbereiche Organisation und Prozesse oft nur wenig behandelt. Für die ganzheitliche Betrachtung mit Blick auf QM beim Einsatz von Business Coaching in der Organisationsentwicklung wäre dies aber bedeutsam.
Bisher sind QM und Organisationsentwicklung zwei getrennt operierende Bereiche mit unterschiedlicher Ausrichtung. Business Quality Coaching (BQC), das Synergie aus Qualitätsmanagement und Business Coaching schöpft, ist ein wirkungsvoller Ansatz, der den Irrweg des konventionellen QM verlässt und Qualität intrinsisch fördert.

Business Quality Coaching ist Hilfe zur Selbsthilfe mit dem Ziel, Qualität von innen nach außen entstehen zu lassen.

BQC benötigt eine neue Rolle mit neuen Kompetenzen. Durch einen Mix aus Beratung, Training und Coaching befähigt der Business Quality Coach Mitarbeiter und Führungskräfte zu „Qualitätsexperten“ für ihren Bereich bzw. für ihre Aufgaben. Sie erlangen die Kompetenz für das Gestalten „ihres“ Managementsystems mit individuellen Lösungen, unter Einhaltung der gültigen Standards und Normen. Ein Schlüsselprozess sind dabei die internen Audits, welche weniger der Überwachung als vielmehr dem Austausch und dem Lernen dienen.

Abb. 5: Rollen des QM-Beauftragten und des Quality Coaches (eigene Darstellung)

Im Gegensatz zum QMB, der in der Regel in der QM-Abteilung seinen Platz hat, ist die Rolle des Business Quality Coach an keine Abteilung oder Hierarchiestufe gekoppelt. Jeder kann die Rolle im Unternehmen ausüben, in aller Regel zusätzlich zu einer Fach- oder Führungsfunktion. Nachdem das Konzept des BQC in der Organisation vorgestellt wurde, sollte die Rolle gemeinsam mit Fach- und Führungskräften entwickelt werden.

Was sind die Voraussetzungen für die Rolle eines Business Quality Coachs?

  • Freiwilligkeit und Interesse
  • Bereitschaft an sich zu arbeiten, die eigenen Verhaltensweisen zu reflektieren und sich weiterzuentwickeln
  • Unbegrenzte Lernbereitschaft
  • Spaß, mit Menschen zu arbeiten und sie in ihrer Entwicklung zu begleiten
  • Zeit für die Gestaltung und Ausübung der Rolle
  • Und für Führungskräfte: Die Bereitschaft, Macht bzw. (Entscheidungs-) Befugnisse abzugeben!

Mit den genannten Voraussetzungen steht einer Qualifizierung zum Business Quality Coach nichts mehr im Wege. Eine vorab abgeschlossene Ausbildung zum Business Coach oder eine vergleichbare Qualifikation ist hilfreich. Ein großer Kompetenzanteil für die Rolle, das Coachen, wurde dann bereits aufgebaut. Was noch fehlt, sind die Fähigkeiten zur Entwicklung qualitätsbestimmter Führung im Unternehmen und bei Bedarf ein Training zur Interpretation und Umsetzung der QM-Normen.

Zeit für „neue Qualität“!

Wir sind sehr unzufrieden darüber, dass Qualität heute verbreitet eine sinnentleerte Schattenexistenz führt und halten eine tiefgreifende Neuausrichtung für notwendig. Mit unserem Buch Quality Reinvented! weisen wir einen Ausweg aus der Verirrung des Qualitätsmanagements und zeigen auf, wie die Verantwortung für Qualität in die Hände der Unternehmensführung und aller Mitarbeitenden gelegt wird. Mithilfe unserer Workshops, Trainings und Coachings befähigen wir Individuen und Organisationen, das wahre Potenzial von Qualität zu erkennen und zu verwirklichen.