Schon im 5. Jahrhundert vor Christus erkannte der Philosoph Heraklit, dass nichts im Universum statisch ist. Mit seinem berühmten Ausspruch „Die einzige Konstante ist die Veränderung“ (Diels, 1922) brachte er die Vorstellung zum Ausdruck, dass alles einem ständigen Wandel unterliegt. Diese Weisheit bleibt bis heute relevant und inspiriert fortwährend Denker und Wissenschaftler.
In unserer modernen Arbeitswelt scheint diese Aussage nicht nur eine zeitlose Wahrheit zu sein, sondern gewinnt zusätzlich an Dringlichkeit, da sich die Zeitspanne zwischen Veränderungen immer weiter verkürzt. Das Akronym VUCA – für Volatil, Unsicher, Komplex und Mehrdeutig – fängt die Essenz unserer Zeit ein, in der Veränderungen schnell und unberechenbar sind. Es dient als prägnante Beschreibung unserer globalen Umwelt und wirkt sich tiefgreifend auf Vereinigungen, Organisationen, Projekte und Unternehmen aus. In einem solchen Kontext müssen Anpassungsfähigkeit und Innovationsbereitschaft zu Kernkompetenzen werden, um erfolgreich zu sein.
Unsicherheit prägt unsere Zeit und lässt uns im Business-Kontext ständig rätseln: Vor welchen Herausforderungen wird unsere Kundschaft als Nächstes stehen? Welche neuen Tools werden unsere Arbeitsweise revolutionieren? Wo finden wir Platz für unsere feinsäuberlich abgestimmte Planung, die unsere Unternehmens-Effizienz und Wettbewerbsfähigkeit sichert, wenn alles in ständigem Wandel ist? Veränderung oder Wandel nimmt in unserer volatilen Welt eine neue Bedeutung an und erfordert ein grundlegendes Umdenken. Langfristige Businesspläne müssen durch kleine, wertvolle Inkremente ersetzt werden.
Agilität (bringt die Flexibilität und Anpassungsfähigkeit, die in diesen dynamischen Zeiten notwendig ist, und lässt uns Heraklits zeitlose Einsicht in die moderne Unternehmensführung integrieren, denn Agilität ist die Fähigkeit einer Organisation, flexibel und proaktiv auf Trends und sich ständig ändernde Rahmenbedingungen im unternehmerischen Umfeld zu reagieren. Ein Beispiel für Agilität in der Unternehmenswelt ist das Technologieunternehmen Spotify, welches sich durch sein agiles Arbeitsmodell bekannt gemacht hat, das auf kleinteiligen, selbstorganisierten Teams basiert, die als "Squads" bezeichnet werden. Diese Squads arbeiten unabhängig voneinander an unterschiedlichen Projekten und können sich schnell an neue Marktbedingungen anpassen oder auf Kundenfeedback reagieren.
Agiles Arbeiten übersteigt die Grenzen eines bloßen Konzepts. Es versteht sich als Philosophie, die darauf zielt, Mitarbeitende zu ermächtigen, Eigenverantwortung zu übernehmen und ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Durch das Abstimmen von Arbeitspaketen dort, wo das benötigte Wissen liegt, und das Bottom-Up-Aufbauen einer Unternehmensstruktur, die Kundennähe, Innovation und kontinuierlichen Mehrwert fördert, verkörpert die Agile Methode eine zeitgemäße Befähigung der Unternehmens-Organisation.
Abb. 1: Alignment vs. Autonomy nach Spotify-Modell (eigene Darstellung nach Kniberg 2014)
Doch der Übergang zu dieser Arbeitsweise ist komplex. Die Fragen, wie Bottom-Up Verantwortung etabliert, wie Teams zur Zusammenarbeit befähigt oder wie Ordnung, Richtung und Antrieb in einer so vielschichtigen Welt geschaffen werden können, sind nicht bloß theoretischer Natur. Sie spiegeln die praktischen Herausforderungen wider, denen sich Unternehmen in der heutigen Zeit stellen müssen, um die Vision des agilen Arbeitens zu verwirklichen. Ein Ansatz zur Überwindung dieser Herausforderungen wird im Spotify-Modell (siehe Abb. 1) beschrieben, das zwei zentrale Aspekte der agilen Zusammenarbeit hervorhebt: Autonomie und Alignment. Autonomie ermöglicht den Mitarbeitenden, selbstständig Entscheidungen zu treffen und ihre Arbeit individuell zu gestalten, während Alignment eine gemeinsame Ausrichtung und Orientierung sicherstellt.
Oftmals als Gegensätze betrachtet, sieht Spotify Autonomie und Alignment als komplementäre Dimensionen erfolgreichen Zusammenarbeitens, die das Fundament einer agilen Organisation bilden und als Leitstern für Unternehmen, die sich in einer sich ständig verändernden Welt behaupten wollen, dienen. Ohne Autonomie verfällt eine Organisation in eine Micro-Management-Kultur, die Kreativität erstickt und jede Aktion überwacht. Fehlt Alignment, entsteht Chaos ohne gemeinsame Ziele und der Mehrwert bleibt ungewiss. Um beides zu vereinigen, braucht es einen geschützten Raum, in dem autonomes Arbeiten und gemeinsame Richtung koexistieren. Dies wird durch eine gemeinsame Vision und klare Ziele, vermittelt durch das Management, ermöglicht. Aber die Umsetzung hängt von den Menschen selbst ab, geprägt durch ihre individuellen Lebensrealitäten, Erfahrungen und Motivationen. Inspiration, eng verknüpft mit dem persönlichen Sinn, kann in der Geschäftswelt einen echten Unterschied machen. Wenn Mitarbeiter:innen ihre Arbeit nicht nur als Routine betrachten, sondern als Teil eines größeren Ziels, entfaltet sich eine Leidenschaft, die über das Alltägliche hinausgeht. Sie sind in der Regel engagierter, kreativer und sehen sich als Schlüsselakteure in einem bedeutenden Spiel. In einer volatilen Welt ist dieses Verständnis von Inspiration nicht nur ein nützliches Werkzeug, sondern kann definitiv vor allem entscheidend für den Erfolg einer Organisation sein.
Inspiration bietet eine Hilfe in vielen Lebenslagen. Ein dramatisches Beispiel ist dabei die Geschichte des russischen Wissenschaftlers Nikolai Iljitsch Wawilow (Sinek, 2019:28). Wawilow arbeitete in den Jahren vor dem zweiten Weltkrieg an der heute größten botanischen Genbank in Leningrad mit dem Ziel, dem Hunger den Kampf anzusagen, sodass niemand mehr Hunger leiden müsse. Während des Krieges geriet Leningrad in die Belagerung durch die deutsche Wehrmacht und wurde ausgehungert. Selbst unter diesen widrigen Bedingungen beschützte eine kleine Gruppe Wissenschaftler um Wawilow unter Einsatz ihres Lebens im geheimen Kreis die Vorratssammlung, die aus typischen Getreidesamen, Nüssen, Knollen wie Kartoffeln und Ähnlichem bestand. Man fragt sich: Wie fanden Wawilow und seine Wissenschaftler zu einem solchen Commitment? Die Grundlage bildet die gemeinsame Vision, dem Hunger den Kampf anzusagen. Zusammen sahen sie eine Zukunft, die besser war als die Gegenwart - etwas, für das es sich zu kämpfen lohnte. Jedoch war dies nicht irgendeine Vision. Sie war ihre Vision. Die Bürger Leningrads zum Beispiel hätten in dieser Situation wohl liebend gern die Vorratssammlung verspeist. Entscheidend für einen solchen Antrieb ist also die persönliche Identifikation mit der Vision. Die Vision steht nicht nur im Raum, sondern ich habe sie aktiv gestaltet. Ich habe meine persönlichen Erfahrungen, Eindrücke und Gedanken hinzugegeben und sie mit meiner Handschrift geprägt. Die Vision voranzutreiben, steht in Einklang mit meinen persönlichen Werten und resoniert somit mit mir als ganze Person.
Wie diese Werte unsere Motivation und damit unser Handeln bestimmen beschreibt das Bücherregal der Erkenntnisse (siehe Abb. 2). In unserer Gesellschaft ist es eine gängige Annahme, dass unser Handeln rational getrieben ist. Als rationale Denker entscheiden wir unseren nächsten Schritt aufgrund vorliegender Fakten und erwarteter Ergebnisse. Emotionen lenken uns dabei lediglich vom Weg ab und verleiten uns, anders zu handeln. Manson stellt diese Annahme in Frage. Denn auch das rationale Handeln hat einen Antrieb: Einen Gedanken oder eine Erkenntnis, die uns wichtig erscheint. Was wichtiger ist, entscheiden dabei unsere persönlichen Werte und die mit ihnen verknüpften Emotion. Wenn ich mich morgens um sechs Uhr mühselig aus dem Bett quäle, steht dem entgegen nicht der rationale Gedanke zur Arbeit gehen zu müssen, sondern ein Bedürfnis nach finanzieller Sicherheit und dem Gefühl mein Leben mit dem verdienten Geld unabhängig gestalten zu können. Verlasse ich die finanzielle Sicherheit meines Jobs für eine neue Stelle, ist ein möglicher Antrieb, mich als Person in eine neue Richtung zu entwickeln. Grundlage für diese Hierarchie sind die Erfahrungen, die ich im Laufe meines Lebens sammle und die Emotion, die ich mit ihnen verknüpfe (Manson & Wayne, 2019:55-57).
Abb. 2: Bücherregal der Erkenntnisse (in Anlehnung an Manson & Wayne 2019)
Im Bücherregal der Erkenntnisse stehen positive Erfahrungen auf den oberen Regalen. Haben wir die Möglichkeit unseren nächsten Schritt zu entscheiden, so sucht sich unser Unterbewusstsein die Aktivität aus, die wir mit dem höchstmöglichen Fach verknüpfen können. Diese Hierarchie kann sich nur dann ändern, wenn wir eine neue Erfahrung machen. Verknüpfen wir unsere Erfahrungen und prägenden Gedanken auf eine neue Art und Weise, so ist es über eine längere Zeit möglich, die Anordnung im Bücherregal zu verändern. Quelle dieser Veränderung sind die Menschen, die uns umgeben, unsere Freunde und Vorbilder und in manch einem Fall auch unsere Kolleg:innen.
Die Reise, Inspiration zu finden, beginnt fast immer mit der Selbstkenntnis – dem Verständnis unserer Identität und der Ereignisse, die sie geformt haben. Unsere Identität wird durch viele Faktoren beeinflusst, von Familie und Freunden bis hin zu unseren Leidenschaften für die Natur oder Technologie. Manchmal ist es schwer zu artikulieren, was uns swirklich antreibt und welche Werte hinter unseren Handlungen und Überzeugungen stehen. Was weiterhilft, ist die Frage: Warum tue ich eigentlich etwas? Was ist der Hintergrund und was möchte ich erreichen? Oftmals vermischen sich Bedürfnisse wie Ruhe, Ausgleich oder dem Drang, Neues zu erleben, mit dem, was uns wirklich wichtig ist. Eine Hilfestellung können nach Manson (2023a) unter anderem die folgenden Fragen bieten:
Diese Fragen, ob groß oder klein (Manson, 2023b), führen uns näher zu dem, was uns wirklich wichtig ist, und helfen uns, die Barrieren zu überwinden, die uns oft davon abhalten, unsere Reise zu beginnen. Sie lenken unseren Fokus weg von abstrakten Begriffen wie "Motivation" oder "Passion" und hin zu konkreten Handlungen und Erfahrungen, die unsere Werte widerspiegeln und prägen. Die Relevanz dieser Selbsterkenntnis in Bezug auf selbstverantwortliche Führung liegt in ihrer Fähigkeit, echte Inspiration zu entfachen. Die Führungskraft, die sich selbst versteht und weiß, was sie antreibt, kann diese Erkenntnisse nutzen, um andere zu inspirieren und zu leiten. Es ist ein Prozess, der oft mit kleinen Schritten beginnt, aber durch kontinuierliches Wachstum und Verständnis eine tiefere Verbindung zu unseren Werten herstellen kann. Es ist eine Verbindung, die nicht nur das Individuum, sondern auch die gesamte Organisation bereichert und die Basis für eine inspirierte, selbstverantwortliche schaffen kann.
Inspiration gefunden? Dann gilt es jetzt, sie einzusetzen. Inspiration ermöglicht, Barrieren abzubauen und spielt in der Führung auf drei Arten eine wichtige Rolle: durch fachliche Expertise, den Willen, Widerstände zu überwinden, und das Zusammenführen von Gleichgesinnten zu einem gemeinsamen Ziel. Inspiration dient als persönlicher Antrieb, als Leidenschaft für ein Zukunftsbild, das wir anstreben. Dieser Antrieb motiviert uns, tiefer in ein Themengebiet einzutauchen, zum Beispiel durch berufliche Weiterbildung oder im Privaten durch Podcasts, Artikel oder Bücher. Dieses verdichtete Wissen ist kein Selbstzweck, es hilft, Barrieren im Unternehmen zu überwinden. Das klare Verständnis meiner Inspiration erleichtert es mir, neue Wege einzuschlagen, Ideen zu liefern und andere auf denselben Weg zu bringen. In diesem Kontext sprechen wir von sogenannten Fach-Promotoren (Witte, 1999:9-41), den heutigen Microsoft-Gurus, Agilitäts-Enthusiasten oder Hobby-Designern. Für Change-Manager sind sie wichtige Verbündete, um Veränderungen voranzutreiben. Sie bieten eine Grundlage, um Entwicklungen innerhalb des Unternehmens zu initiieren und zu fördern. Eine Möglichkeit, Inspiration in der Führung einzusetzen, besteht im Willen, Widerstände zu überbrücken (Godin, 2010). Evolutionär bedingt streben Menschen nach Sicherheit, was uns oft zur Passivität treibt und Stillstand fördert. Die Alternative ist, Verantwortung zu übernehmen, aufzustehen und Veränderung zu schaffen. Inspiration gibt uns den Mut dazu und ermöglicht es, neue Möglichkeiten zu erschließen, wie zum Beispiel, nicht auf Anweisungen zu warten, sondern aktiv voranzugehen. Inspiration hilft auch, smarte Risiken einzugehen, bei denen der mögliche Nutzen den potenziellen Verlust überwiegt.
Aber die wahrscheinlich wichtigste Möglichkeit, die Inspiration bietet, ist, Menschen zu verbinden. Nach der Idee von „Tribes“ (Godin, 2008) gibt es bereits Gruppen von Menschen, die durch ihre Werte in eine bestimmte Richtung gehen möchten. Um diese Verbindung herzustellen, braucht es keine Autoritätsposition. Oft genügt es, ein Beispiel zu geben und zu sagen: „Hier bin ich. Dafür stehe ich. Ihr seid willkommen, euch mir anzuschließen.“ Um unsere Inspiration zu finden, brauchen wir ein offenes Ohr für uns selbst und um andere zu führen, ein offenes Ohr für sie. Genau hinzuhören ist nicht einfach und erfordert den Willen, mich und andere zu verstehen, meine Überzeugungen zu hinterfragen und neue Wege zu gehen. Aber auf der anderen Seite steht ein Antrieb, der uns nicht nur die Motivation gibt, selbst aktiv zu werden, sondern auch die Fähigkeit, andere mitzureißen. Zur eigenen Inspiration zu finden, lohnt sich die Reise, bei der es sich auszahlt, den ersten Schritt zu tun.
In der schnelllebigen und sich ständig wandelnden Welt von heute ist Agilität entscheidend für Erfolg und Überleben. Inspiration spielt dabei eine Schlüsselrolle. Sie fördert Kreativität, ermutigt zum Eingehen von Risiken und verbindet Menschen in gemeinsamen Zielen. Als Herzstück der agilen Denkweise ermöglicht Inspiration, proaktiv auf Veränderungen zu reagieren und Innovationen voranzutreiben. In einer unsicheren Welt ist die Fähigkeit, zu inspirieren und inspiriert zu werden, nicht nur wünschenswert, sondern essenziell, um zukunftsfähig und widerstandsfähig zu bleiben.
Diels, H. (1922). “Die” Fragmente der Vorsokratiker: griechisch und deutsch. 3. Auflage, Weidmann.
Godin, S. (2008). Tribes: We need you to lead us. Penguin.
Godin, S. (2010). Linchpin: Are You Indispensable? Teacher Librarian, 37(4), 77.
Kniberg, H. (2014). Spotify Engineering Culture (Part 1). https://blog.crisp.se/2014/03/27/henrikkniberg/spotify-engineering-culture-part-1 [abgerufen am 03.08.2023].
Manson, M. & Roger, W. (2019). Everything is F*cked – A book about Hope. Harper Collins.
Manson, M. (2023a). 7 Strange Questions That Help You Find Your Life Purpose. https://markmanson.net/life-purpose [abgerufen am 03.08.2023].
Manson, M. (2023b). How to Get Motivated: The “Do Something” Principle. https://markmanson.net/how-to-get-motivated [abgerufen am 03.08.2023].
Sinek, S. (2019). The infinite game. Penguin.
Witte, E. (2019). Das Promotoren-Modell - Promotoren: Champions der Innovation. 9-41.