In den vergangenen Jahrzehnten hat sich die Sicht auf das Thema Führung in Unternehmen immer wieder gewandelt. Zu Beginn war eine eher mechanistische Sicht vorrangig. Führung hatte das Ziel, das Funktionieren von Prozessen und Strukturen sicherzustellen. Nach einiger Zeit rückte zusätzlich die monetäre Sicht in den Vordergrund und Führung hatte die Aufgabe, einen Beitrag zum ökonomischen Erfolg (Gewinn) des Unternehmens zu leisten. Schließlich setzte sich zunehmend die Erkenntnis durch, dass es in Unternehmen auch um die Interessen und Bedürfnisse der Mitarbeitenden geht und dass diese auch im Rahmen der Führung mitberücksichtigt werden müssen. Aktuell kommt noch der systemische Blick auf Unternehmen hinzu. Unternehmen sind heutzutage in vielfältige Beziehungsstrukturen (intern und extern) eingebettet und die Führung in Unternehmen muss diesen gerecht werden.
Bedenkt man, dass alle oben genannten Sichtweisen nach wie vor – mehr oder weniger intensiv – gelebt und daher auch berücksichtigt werden sollten, wird schnell deutlich, dass gute Führung quasi die berühmte „eierlegende Wollmilchsau“ ist. Einer Führungskraft würde eine unmögliche Aufgabe abverlangt, all diesen Sichtweisen gerecht zu werden.
Doch ist das wirklich so? Muss eine Führungskraft all diesen Aspekten von Führung gerecht werden und über Tools verfügen, die für den jeweiligen Aspekt relevant sind? Oder geht es im „neuen Führungsverständnis“ um eine völlig neue Sichtweise zum Thema Führung?
Diese Fragen sollen in diesem Artikel beantwortet werden. Ebenso die Frage, wie Führungskräfte dabei unterstützt werden können, das neue Führungsverständnis zu entwickeln und zu leben. Bevor wir aber inhaltlich in den Begriff „neues Führungsverständnis“ eintauchen, sind zwei weitere Fragen zu beantworten.
Zum einen ist es nötig zu verstehen, warum ein neues Führungsverständnis dringend benötigt wird. Sind es „nur“ die oben beschriebenen, unterschiedlichen Aufgaben von Führung oder gibt es weitere Einflüsse, die ein neues Führungsverständnis notwendig machen?
Hierfür gibt es in meinen Augen drei Hauptgründe:
Zum anderen ist es nötig, die Frage zu beantworten, wer heute eigentlich in Unternehmen führt. Oder anders formuliert: Wer übt heute in Unternehmen eine Führungsrolle aus? Die Antwort auf diese Frage erhöht die oben bereits erläuterte Komplexität des Themas Führung ein weiteres Mal.
Es sind nicht nur die klassischen Führungskräfte, die im Organigramm ein Kästchen innehaben oder einen Titel wie Abteilungsleiter tragen. Bereits seit vielen Jahren gibt es temporäre Führungskräfte, die in Projekten Führungsaufgaben übernehmen und hier die oft sehr anspruchsvolle Aufgabe haben, ohne disziplinarische Weisungsbefugnis für einen begrenzten Zeitraum interdisziplinäre und nicht selten auch interkulturelle Teams zu führen.
Aber es geht noch weiter. Heutzutage, in der Zeit von häufig selbstorganisierten Teams, übernimmt mal der eine Mitarbeiter, mal die andere Mitarbeiterin eine Führungsrolle, wenn es darum geht, ein Problem schnell zu lösen, ein Konzept zu erarbeiten oder neue Lösungsvorschläge zu entwickeln.
Zusätzlich gibt es sicherlich so etwas wie informelle Leader. Sie übernehmen als „graue Eminenz“ bereits in jungen Jahren eine meinungsführende oder -bildende Rolle, weil sie aufgrund von Wissen, Erfahrung, Interesse und/oder Persönlichkeit in einem Bereich eine solche Rolle - oftmals auch unbewusst - übernehmen und/oder von Kolleg:innen zugeschrieben bekommen.
All das bedeutet, dass das Thema Führung für viel mehr Mitarbeiter:innen in Unternehmen relevant ist bzw. wird, als das bisher der Fall war.
Wenden wir uns nun – endlich – der Frage zu, was es mit dem sogenannten neuen Führungsverständnis auf sich hat.
Für viele ist der Begriff „situatives Führen“, also die Fähigkeit in unterschiedlichen Situationen unterschiedlich zu agieren, sicher nichts Neues. Bricht im Büro ein Feuer aus, muss absolut „autoritär“ angesagt werden, was zu tun ist. Bei der Diskussion über den nächsten Betriebsausflug dagegen kann kreativ gesponnen und dem Team eine Entscheidung – vielleicht unter Setzung eines Budgetrahmens - überlassen werden.
Betrachten wir nun aber die bereits erwähnte zusätzliche Herausforderung der unterschiedlichen Bedürfnisse von einzelnen Mitarbeitergruppen, bedarf es dafür individueller Führung. In der gleichen Führungssituation, beispielsweise bei der Delegation einer Aufgabe, muss bei einem langjährigen, 60 Jahre alten Mitarbeiter vermutlich anders vorgegangen werden als bei einer neuen Kollegin, die 25 Jahre alt ist und gerade frisch von der Universität kommend im Unternehmen angefangen hat. Das hat nicht nur etwas mit dem Können und der Erfahrung dieser beiden Mitarbeitenden zu tun, sondern auch mit deren Bedürfnissen und Werten. Während - ja, jetzt wird es etwas stereotyp – beim älteren Kollegen der Satz “diese Aufgabe muss bis Ende der Woche erledigt werden” vielleicht ausreicht, erwartet die junge Kollegin wahrscheinlich eine deutlich umfangreichere Erläuterung des Warums, um den Sinn der Aufgabe für sich und das Unternehmen zu erkennen. Auch die „Tagesform“ beeinflusst, wie vorgegangen wird. Gibt es bei einem Mitarbeitenden zum Beispiel gerade besondere, persönliche Herausforderungen oder andere gravierende, äußere Einflüsse, muss mit mehr Empathie vorgegangen werden als unter normalen Umständen.
Demnach gibt es nicht mehr einen Koffer mit Standardwerkzeug beispielsweise für die Frage „wie delegiere ich richtig?“. Stattdessen muss nahezu jedes Mal neu überlegt werden, wie eine Führungskraft in einer konkreten Situation und im aktuellen Setting mit speziellen Mitarbeiter:innen richtig umgeht.
Auch der Ergebnisbericht zum New Work-Barometer 2022 beschäftigt sich ausführlich mit der Frage, welche Erwartungen mit dem sogenannten „New Work“ sowohl von Seiten der Führungskräfte wie auch von Seiten der Mitarbeitenden verbunden ist. Allen voran werden dabei – von beiden Gruppen gleichermaßen - das Empowerment und die Selbstorganisation genannt.
Es bedarf also eines neuen Führungsverständnisses. Ist dieser Umstand akzeptiert, stellt sich die Frage, wie jede einzelne Führungskraft dieses umsetzen kann.
So einfach dieser Satz klingt, so schwierig ist er doch in der Praxis umzusetzen, denn das neue Führungsverständnis bedingt ein völlig neues Mindset. Diesem Mindset liegen nach Baumann-Habersack (2020) sieben Werte zugrunde (siehe Abb. 1).
Abb. 1: Das Metamodell der transformativen Autorität (Eigene Darstellung nach Baumann-Habersack 2020)
Überraschend in dieser Auflistung ist der Begriff der Gleichwertigkeit aller Beteiligten. Jeder Mensch ist individuell. Es gibt in dieser Individualität keinerlei Auf- oder Abwertung, d.h. eine Führungskraft ist nicht mehr wert als ein Mitarbeitender – egal, welche Aufgabe dieser im Unternehmen hat. Alle Meinungen, Ideen oder Ansätze sind willkommen und werden mit der gleichen Ernsthaftigkeit diskutiert, unabhängig davon von wem sie kommen. Damit wird nicht mehr automatisch umgesetzt, was die Führungskraft will.
Auch der Wert der Autonomie ist von besonderer Bedeutung, denn er verkörpert die Überzeugung, dass soziale Systeme nicht von außen veränderbar sind, geschweige denn von außen durch Anweisungen gesteuert werden können. Das hat zur Folge, dass sich soziale Systeme, aber auch Individuen nur aus sich selbst heraus verändern können. Daraus wiederum folgt, dass die Führungskraft nicht mehr anweisen kann, sondern vielmehr mit einem veränderten (Führungs-)Verhalten voran gehen muss.
Daraus ergibt sich, dass die Aufgabe der Führungskraft vielmehr in den Hintergrund tritt und die Autonomie und Selbstverantwortung des Teams im Fokus stehen. Die Führungskraft lässt Raum und greift nur dann ein, wenn sie um Hilfe gebeten wird oder die Situation es wirklich erfordert (z.B. bei destruktiven Verhaltensweisen im Team). Die Führungskraft geht mit gutem Beispiel voran und zeigt veränderte Verhaltensweisen wie werteorientiertes Handeln, empathischer und respektvoller Umgang sowie die Fähigkeit, sich selbst mit den eigenen Schwächen und Ängsten zu zeigen. Es geht um das „Loslassen“, was eng verbunden ist mit Vertrauen – weg von der Ich-Zentrierung als Führungskraft, hin zur Wir-Zentrierung als Team. All das braucht Mut.
Dieser und viele weitere Aspekte im Zusammenhang mit dem neuen Führungsverständnis bringen vor allem „alteingesessene” Führungskräfte aus stark hierarchischen Strukturen, die jahrzehntelang selbst so geführt wurden und haben, häufig an ihre Grenzen. Unternehmen sind demnach gefordert, diesen Führungskräften gezielte und nachhaltige Unterstützung anzubieten und ihnen aufzuzeigen, wie sie mit diesen Herausforderungen und Veränderungen besser umgehen können.
Wenn es darum geht, als Führungskraft die eigene Haltung zu verändern, dann kann das nicht durch das Erlernen eines Tools in einem Training gelingen. Vielmehr muss die Bereitschaft vorhanden sein, die eigene Haltung zu erkennen, und diese Schritt für Schritt zu verändern. Das ist ein sehr individueller, häufig auch sehr schmerzhafter Prozess, der Zeit braucht.
Wie so ein erster Reflexionsschritt zum Erkennen der eigenen Haltung aussehen könnte, finden Sie hier.
Die beste und effizienteste Möglichkeit individuell und nachhaltig solche tiefgreifenden Verhaltensänderungen herbeizuführen, ist Coaching.
Sei es nun durch ein Team-Coaching auf Peer-Ebene (falls mehrere Führungskräfte vor der Herausforderung stehen, ihr Führungsverhalten aufgrund Unternehmenszusammenführung neu auszurichten bzw. ein gemeinsames neues Führungsverständnis zu entwickeln) oder im Einzel-Coaching (Umgang mit den Ängsten und Herausforderungen, die die einzelne Führungskraft hat, beispielsweise das Abgeben von Verantwortung). Schließlich ist ein Coaching auch vielversprechend, um das Zusammenspiel zwischen Führungskraft und Team (z.B. ob das gezeigte und erlebte Führungsverhalten für alle Beteiligten stimmig ist) zu verbessern, aber auch um die Selbstreflexions- und -organisationsfähigkeit des Teams zu stärken.
Bei allen Coaching-Ansätzen gilt, dass die Reflexionsfähigkeit der Führungskraft gestärkt wird, sprich dass das Verständnis der eigenen Persönlichkeitsstruktur (Werte, Antreiber, Bedürfnisse, etc.) erhöht wird. Dadurch ist die Führungskraft in der Lage, andere besser zu verstehen und damit auch besser zu führen. Diese Reflexionsprozesse kommen üblicherweise im Führungsalltag viel zu kurz und müssen deshalb durch erfahrene Coaches langfristig begleitet werden.
Unternehmen müssen ein neues Führungsverständnis etablieren, um erfolgreich und wettbewerbsfähig zu bleiben. Sobald dies erkannt und die Entscheidung gefällt wurde, das neue Führungsverständnis umzusetzen, muss diese auch von oben getragen und vorgelebt werden. Die oberste Führungsriege muss bei sich anfangen und das offen in die Mannschaft kommunizieren. Für Führungskräfte, die diesen Weg nicht mitgehen können oder wollen, muss nach Alternativen gesucht werden, die ihnen die Möglichkeit geben, sich so zu verändern, dass sie ihr Gesicht nicht verlieren.
Aus meiner Sicht führt allerdings aufgrund der beschriebenen Herausforderungen und Notwendigkeiten kein Weg daran vorbei, das Führungsverständnis in Unternehmen zu verändern, um auch in Zukunft als “neue” Führungskraft erfolgreich und wirksam führen zu können.
Baumann-Habersack, F. H. (2020). Führen mit transformativer Autorität – Die neue Praxis wirksamer Konfliktbearbeitung. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen.
Schermuly, C. & Meifert, M. (2022). Ergebnisbericht zum New Work-Barometer 2022. SRH Berlin University of Applied Sciences, Berlin School of Management, Berlin.